Flowerpower gegen Druck von allen Seiten

Im Wunderland auf der Suche nach sich selbst: Die Junge Theaterakademie Offenburg mit ihrem neuen Stück „Alice“

von Susanne Kerkovius, Badische Zeitung vom 23. November 2024

Fotos: Armin Krüger

Was für ein Fest für Augen, Ohren, Herz und Verstand! Mehr als zwei Stunden beste Unterhaltung mit über 20 kurzweiligen Szenen, phantasievollen Kostümen, origineller Musik, magischen Teetassen und in der Luft schwebenden Hüten, witzigen Dialogen und einer Theatertruppe in wunderbarer Spiel-Laune. Das Publikum ließ sich bei der Premiere des Stücks „Alice“ von der Jungen Theaterakademie (JTA) – ein Gemeinschaftsprojekt des Grimmelshausen- Gymnasiums, der Klosterrealschule, der Kunstschule und der VHS Offenburg – in ein Wunderland entführen, das trotz Grinsekatze, Schwarzem Läufer und Weißem Kaninchen auffällige Ähnlichkeiten mit unserer realen Welt aufzuweisen hatte und damit auch der heranwachsenden Alice einen Weg aus ihrer Identitätskrise aufzeigen konnte.

Wenn die Traumwelt, in die man sich flüchtet, ebenso verrückt ist wie die reale Welt, von der man sich erdrückt fühlt, dann gibt es nur einen Ausweg: Sich der eigenen Stärke besinnen, sich Kampfgefährten suchen und sich gemeinsam zur Wehr setzen. Das ist die Botschaft dieses von der JTA selbst entwickelten Neuinterpretation des Klassikers „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll (Spielleitung Paul und Cornelia Barone, Choreografie:Patrick Labiche), der 1865 erstmals aufgelegt wurde und zu den 1000 wichtigsten Büchern der Weltliteratur gezählt wird. Im Original wird die heranwachsende Alice von einem weißen Kaninchen in die Wunderwelt gelockt, während sie von ihrer älteren Schwester gerade vorgelesen bekommt.

Alice ist ein eher altkluges Mädchen, das viel nachdenkt und vieles an der viktorianischen Gesellschaft und ihren starren Regeln und Konventionen nicht verstehen kann. Die JTA packt den Stoff psychologischer an und macht die Figur dadurch nahbarer. Alice (toll gespielt von Juliana Barone) fühlt sich erdrückt von den Forderungen ihrer Umgebung. Ihr alleinerziehender Vater (Marcus Roth) ist voller Angst, dass er seine Töchter nicht zu erfolgreichen Menschen erziehen kann und übt daher Druck auf sie aus. Der Chor der Gesellschaft (elf Schauspieler beiderlei Geschlechts in schwarz-weißen Kostümen) wirkt mit negativen Einflüsterungen auf die Familie ein und bedrückt sie. Die ältere Schwester Lorina (super: Romea Makaro) steht der Jüngeren bei und folgt ihr ins Wunderland, wo sie sich jedoch beide auf eigene Faust durchfinden müssen, bis sie am Ende gemeinsam gestärkt wieder herauskommen.

Die bekannten Wonderland-Figuren wie die Grinsekatze – als Fünfergruppe zauberhaft dargestellt –, Weiße Königin (Nele Fleig, gechillt mit Teetasse), Schwarze Königin (Steilvorlage für Anna Sauer) und unterdrückter Schwarzer König (Marcus Roth), Blaue Raupe (Publikumsliebling Finn Bergmann), süßes Weißes Kaninchen (Alexandra Bilger), Märzhase (Elisa May) und Schlafmaus (Sofia Stapf), Hutmacher und Hutmacherin (Mattia Catini und Amelie Berns), Teweedliedee und Tweedledum (Luisa Barone und Yara Ramadan) haben, wie Alice schnell bemerkt, alle so ihre eigenen Probleme und bekämpfen sich auch gegenseitig. Wettbewerbsdenken, Selbstoptimierungswahn und Ideenklau (siehe die Geschichte der Köchin: Emilia Erb) sind auch hier vorherrschend, auch wenn der Mann mit dem dreieckigen Hut (Emil Reister) hier etwas entspannenden Nonsense einbringt.

Stress allenthalben: der Schaffner (Pierre Godet) klagt darüber, dass Zug Nummer 43 eine Verspätung von 4,25 Tagen habe, was die Aktienkurse nach unten treiben könne. Alice gerät zufällig in zwei Wettkämpfe, die sie unabsichtlich gewinnt: den Diagonallauf-Wettkampf (optisch ein Augenschmaus mit Ruby Burg Ferreiras Performance) und den Blumen-Schönheitswettbewerb – eine Satire à la Germany’s next Topmodell mit einer schlecht gelaunten Jury und sechs hysterischen Blumen, die alles tun, um den Preis zu gewinnen. Auch Psychotherapie ist im Wunderland an der Tagesordnung. Die Blaue Raupe muss sich mit der ausgebrannten (Schlafmaus) der, unterdrückten (Schwarzer König) und nicht gesehenen (Hutmacher) Klienten herumplagen.

Ausgerechnet bei den Piraten lernt Alice, wie man gemeinsam stark ist und sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzt, und so wie diese sich ihr Recht auf einen Lohn für ihre Arbeit mit viel Mut und Energie zu verschaffen wissen, so schaffen es Alice und Lorina schließlich vereint mit den Piraten, sich gegen die Übermacht des negativen Denkens, den Jabberwocky, gemeinsam erfolgreich zu wehren. Diese Erfahrung bewährt sich auch bei der erneuten Konfrontation mit der realen Welt, die immer noch so ist, wie sie ist, aber die beiden Mädchen haben im Wunderland erfahren, was in ihnen steckt.

Großes Lob für eine in jeder Hinsicht niveauvolle, von allen Teilnehmern (die aus Platzgründen leider nicht alle namentlich genannt werden können) super gespielte Aufführung, für wunderbare Ballett- Szenen, witzige Dialoge, perfekte Life-Musik und ein junges Stück mit einer hoffnungsvollen Botschaft.

Publikum liebt gechillte Raupe: So ist das neue Theaterstück „Alice“

Von Regina Heilig, Offenburger Tageblatt vom 22. November 2024

Seit Donnerstag wird „Alice“ vier Abende am Stück von der Jungen Theaterakademie aufgeführt. Ein Traumbilderbogen, ein wogendes Menschenknäuel und mehr begeistern die Zuschauer.

Das Stück „Alice“ von der Jungen Theaterakademie Offenburg hatte am Donnerstag in der Reithalle Premiere. Weitere Aufführungen finden heute um 19 Uhr und am morgigen Sonntag um 17 Uhr statt. Titelheldin Alice, das ist natürlich das kleine Mädchen, das Autor Lewis Carroll in einen wilden, bunten Nonsens-Kosmos versetzte, inklusive entlarvender Parallelen zur realen Welt. Frei nach Motiven aus „Alice im Wunderland“ und „Alice im Spiegelland“, bevölkert von den Menschen, Tieren und sogar Pflanzen, die der Protagonistin begegnen, wurde beim Gemeinschaftsprojekt des Grimmelshausen-Gymnasiums, der Klosterrealschule sowie der Kunst- und der Volkshochschule Offenburg ein funkelnder Traumbilderbogen aufgeblättert.

Mordlustige Herzkönigin

Paul Barone und Patrick Labiche setzten bei Regie und Choreografie auf wandelbare und in alle Richtungen bewegliche Kulissenteile, die bisweilen gar von der Decke herunterschwebten, und auf pfiffige Einfälle wie die Darstellung des Monsters „Jabberwocky“ durch ein wogendes Menschenknäuel. Während die aufwendigen, beim hektischen weißen Kaninchen, dem zynischen Grinsekater, dem verrückten Hutmacher-Paar oder der mordlustigen Herzkönigin gar überbordend verschwenderischen Gewänder ganz „in der Zeit“ blieben (die Originalgeschichten stammen aus den 1860er Jahren), sind die Sorgen und Nöte von Alice, die in der Inszenierung von ihrer Schwester Lorina begleitet wird, zu Hause und im Wunderland höchst heutig.

Helikopter-Erwachsene ertränken die Mädchen in Erwartungen und Ratschlägen, die Königinnen halten ihre Leute mittels Fitness-Zwang und Meditationsgesülze auf schweißtreibendem Trab oder im seligen Tran, und die sprechenden Blumen spielen nicht Schach, sondern müssen sich in einer Talentshow von einer so blasierten wie boshaften Jury runtermachen lassen.

Zum Publikumsliebling avancierte mühelos die gechillte „Raupe“, dicht gefolgt von der überkandidelten Herzkönigin mit explosionsartig ausbrechenden Tobsuchtsanfällen. Die Inszenierung zeigt, was die jungen Darsteller können, sei es bei Darstellung, Tanz, Pantomime oder Musik. Vor allem im zweiten Teil begeistern die Gesangseinlagen der Piraten (die nun nicht aus der Feder von Lewis Carroll, sondern wahlweise aus Nimmerland oder aus Penzance stammen), erst als Schrubber-Percussion-Corps bei „Soon May The Wellerman Come“ und später beim Trio „Here’s A Health To The Company“.

Die Bühnenstars

Im Stück „Alice“ spielen mit: Juliana Barone als „Alice“, ferner Koray Atas, Luisa Barone, Finn Bergmann, Amelie Berns, Alexandra Bilger, Ruby Burg Ferreira, Jonathan Busam, Mattia Catini, Pío Exposíto, Nele Fleig, Simon Frädrich, Ellie Gallus, Pierre Godet, Julia Göbel, Noah Güttler, Smilla Heimburger, Lea Maier, Romea Makaro, Gabriel Manashirov, Elisa May, Emilia Orb, Yara Ramadan, Paula Raus, Emil Reister, Lotte Reister, Marcus Roth, Anna Sauer, Sihaya Su Schatz, Cora Schreiner, Silvio Segarich, Sofia Stapf, Colin Thiel und Amalia Wagner.

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